Johano Strasser

Sich mitteilen können

Jürgen Heckel ist von Beruf Bibliothekar, ein preisgekrönter: 1999 erhielt er die von der Deutschen Literaturkonferenz vergebene Preusker-Medaille für seine hervorragende und maßgebende Arbeit in der Stadtbücherei des nahen Garching. Und weil er als Bibliothekar nicht nur über die Bücher Bescheid weiß, die es gibt, sondern auch über die, die es noch nicht gibt und die dringend geschrieben werden müssen, setzt er sich gelegentlich hin und schreibt selbst ein Buch. Das erste, ein Kommunikationshandbuch mit dem Titel Frei sprechen lernen, hat mittlerweile die dritte Auflage erreicht und ernährt seinen genügsamen Verleger prächtig. (Ein bisschen fällt natürlich auch für den Autor ab.) Das zweite, ebenfalls im A1-Verlag erschienen, soll Ihnen hier heute vorgestellt werden: Sich das Leben nehmen. Alkoholismus aus der Sicht eines Alkoholikers.

Wer das zweite Buch liest, versteht auch sofort, warum Jürgen Heckel das erste geschrieben und warum er es so und nicht anders geschrieben hat: so kompetent, so eindrücklich und mit so viel persönlichem Engagement. Denn sein eigener Weg aus der Lebenskrise des Alkoholismus, war nur möglich, weil er lernte, sich mitzuteilen, mit sich selbst und mit anderen zu kommunizieren, aufrichtig zu kommunizieren. Alkoholismus, so lesen wir seinem neuen Buch, ist die fundamentale Unfähigkeit zur Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst und anderen. Wenn das stimmt, dann ist das Sich-Mitteilen-Können, die unverstellte und aufrichtige Kommunikation mehr als nur eine Technik: nämlich ein Weg der Gesundung.

Jürgen Heckel spricht und schreibt aus Erfahrung. Er hat erfahren, was es heißt, ein Leben im Als-Ob zu führen, in den Suchtkäfig eingesperrt sich und anderen eine Illusionswelt vorzugaukeln. Aber er hat auch erfahren, dass es Wege in ein anderes Leben gibt, dass man aus der tiefsten Lebenskrise heraus durch eigene Anstrengung und im vertrauensvollen Gespräch mit Schicksalsgenossen zu sich selbst und zum anderen finden kann.

Darum ist sein Kommunikationshandbuch auch etwas ganz Besonderes. Es unterscheidet sich wohltuend von den vielen Büchern zu diesem Thema, die marktschreierisch Patentrezepte anbieten und vorgeben, aus jedem gehemmten Klosterschüler in wenigen Wochen einen Cicero machen zu können. Frei sprechen lernen heißt für Jürgen Heckel nicht lernen, einer rhetorischen Konvention zu genügen, sondern vor allem und zuerst zu sich selber zu finden, die eigene Sprache zu entdecken und die in jedem von uns seit je vorhandenen Möglichkeiten des authentischen Ausdrucks.

Jürgen Heckel ist Alkoholiker, und Alkoholiker ist man, das schärft er uns immer wieder ein, sein Leben lang, auch wenn man wie er nun schon achtzehn Jahre lang ‚trocken’ ist. In seinem neuen Buch schildert er, den dreißigjährigen Prozeß fortschreitender Selbstzerstörung durch Alkohol, den er erst zu stoppen vermochte, als er ganz unten war und mit Hilfe der Freunde bei den Anonymen Alkoholikern die Kraft fand, sich die Niederlage einzugestehen. Was er schreibt über die Notwendigkeit der Kapitulation als Voraussetzung für die Rückkehr ins Leben, dass nicht der verzweifelte Kampf gegen die Sucht, sondern die Anerkennung ihrer überlegenen Macht den ersten Schritt ins Offene ermöglicht, ist ein Stück aus eigener Leidenserfahrung gewonnener Weisheit, die sich nur schwer mit den konventionellen Ansichten unserer so siegesstolzen westlichen Zivilisation verträgt. Unverkennbar schwingt darin eine religiöse Grunderfahrung mit, die Erfahrung, dass aus eingestandener Schwäche Stärke erwachsen kann, der Glaube, dass es einen Grund gibt, der uns trägt, wenn wir unsere conditio humana mit all ihren unabänderlichen Beschränkungen akzeptieren.

Sich das Leben nehmen, das kann zweierlei heißen: sich ums Leben bringen und sich bewußt für das Leben entscheiden. Genau in dieser weitgespannten Ambivalenz ist der Titel des Buches gemeint. Ein Leben in der Sucht, das lernen wir aus diesem Buch, ist vor allem anderen Lebensverfehlung; die Wende, so hat es Jürgen Heckel an sich selbst erfahren, ist nur möglich, wenn man sich bewusst für das Leben, für ein anderes Leben entscheidet. Sich für ein anderes Leben entscheiden, das kann aber nur gelingen, wenn man zunächst ehrlich Inventur macht, sich Rechenschaft ablegt über das bisherige Leben, wenn man die Trauer über die eigenen Fehler und Versäumnisse zuläßt, sich die eigenen Verfehlungen und Verluste eingesteht und nach Möglichkeit versucht, den Schaden, den man angerichtet hat, wiedergutzumachen – wohl wissend, dass dies nur allzu selten möglich ist.

Denn die Adressaten, vor allem wenn es sich um nahe Angehörige handelt, weisen die wohlmeinenden Versuche der Wiedergutmachung nicht selten zurück, weil diese alte Wunden wieder aufreißen, weil sie an die Tragödie einer menschlichen Selbstzerstörung erinnern, in die sie als Lebenspartner, Freunde oder Verwandte verstrickt waren. Was Heckels Buch vor allem auszeichnet, ist, dass es keine überschwänglichen Erwartungen schürt, sondern nüchtern darauf vorbereitet, dass auch das ‚trockene’ Leben für den Alkoholiker seine Schattenseiten hat, dass er immer wieder davor warnt, sich selbst und andere zu überfordern. Für sich selber hat Jürgen Heckel eine Form der Wiedergutmachung entdeckt, bei der er, wie er sagt, nicht Gefahr läuft, andere Menschen zu verletzen. Er hilft jungen Menschen bei ihrer persönlichen und beruflichen Weiterbildung, unterstützt in Not geratene Familien, hat immer ein offenes Ohr für die Bedrängnisse anderer.

Weil Jürgen Heckel aus eigener Erfahrung heraus schreibt und aus Erfahrung weiß, dass die Dinge in der Realität immer noch ein bisschen komplizierter sind als auf dem Papier, steht am Ende seines Buches kein Heilsversprechen. Nicht ungetrübtes Glück, nicht allgemeine Anerkennung und glänzende Erfolge winken als Belohnung für den, der sich dem Zwangszusammenhang der Sucht entwindet. Alles, was der Autor versprechen kann, ist ein reicheres, ein authentisches Leben, zu dem neben Glück auch Unglück gehört, neben Genuß auch Schmerz, neben Hoffnung auch das Bewusstsein unwiederbringlicher Versäumnisse.

Zitat:
Es bedrückt mich, was ich getan und anderen angetan habe, aber es bedrückt mich noch mehr, was ich nicht getan, was ich unterlassen, was ich versäumt habe. Meine Trauer um dreißig Jahre verramschtes Leben ist unaufhebbar. Es ist der Schmerz über den Verrat, den ich an mir selbst begangen habe. Ich kann meinem Leben nicht mehr Tage geben, aber dem Tag mehr Leben.

Sich das Leben nehmen ist ein anrührendes Buch und zugleich ein Buch von schonungsloser, manchmal schockierender Offenheit, einer Offenheit, die den Leser, auch wenn er das Glück hat, nicht zu den unmittelbar Betroffenen zu zählen, zuweilen beschämt, weil sie ihn unversehens daran erinnert, wie oft auch er selbst in Lügen, Illusionen, Betrug und Selbstbetrug flüchtet, statt sich den Tatsachen des Lebens zu stellen. Aber es ist auch ein Buch, das Hoffnung vermittelt, weil es Wege weist, nicht ein für allemal erlösende Wege aus der Gefahr, aber gangbare Wege in der Gefahr.

Jürgen Heckel diskutiert so ziemlich alle Rezepte gegen die Alkoholsucht, die von Ärzten, Therapeuten, Alkohologen, klugen und weniger klugen Ratgebern angeboten werden. Er prüft, wägt ab, weist auf seine eigene Erfahrung hin, geht Einwänden nach, gibt zu bedenken, fordert den Leser immer wieder auf, in sich hineinzuhorchen. Er ist deutlich, wenn es gilt, Scharlatanen entgegenzutreten, die fragwürdige Patentrezepte anbieten oder die Gefahren der Sucht bagatellisieren. So hält er nichts von den immer mal wieder in den Medien aufgewärmten Berichten über erfolgreiche Experimente mit ‚kontrolliertem Trinken’. Alkoholiker, so Heckel, haben in aller Regel nur eine Chance: den Stoff, der ihre Suchtdynamik treibt, lebenslang zu meiden.

Aber bei aller Entschiedenheit bleibt der Autor immer erfrischend undogmatisch, entwickelt keine alles erklärende Theorie, zielt nicht auf die eine allein erfolgversprechende Methode. Das stiftet Vertrauen beim Leser, Vertrauen, wie es die Selbsthilfegruppen, allen voran die Anonymen Alkoholiker bei so vielen Menschen auf der ganzen Welt genießen, weil auch sie den Einzelnen mit seinen Erfahrungen über alle Theorie stellen. Wenn es überhaupt eine Methode gibt, für die der Autor plädiert, dann die der kommunikativen Selbsthilfe in den Gruppen der Anonymen Alkoholiker.

Jürgen Heckel hat wie so viele Alkoholkranke überall auf der Welt in den Selbsthilfegruppen seinen Lebenssinn, sein Selbstvertrauen und seine Selbstachtung wiedergefunden. „Alkoholiker“, schreibt er, „sind ichbezogene Menschen, sie stellen ihr Ich in den Mittelpunkt des Universums.“ Ich glaube es ihm, obwohl ich ihn als einen ganz anderen Menschen kennengelernt habe, als einen Menschen, der sich angenehm von den vielen ichbezogenen und narzisstischen Schriftstellern und Politikern unterschied, mit denen ich von Berufs wegen zu tun hatte. Aber vielleicht liegt das daran, dass wir uns erst näher gekommen sind, als sich die Wende in seinem Leben schon abzeichnete.

Als ich im Jahr 1987 von Berlin an den Starnberger See umzog, wurde aus unserer von Sympathie getragenen politischen Zusammenarbeit, die in die gemeinsamen Juso-Jahre zurückreicht, eine echte Freundschaft. Erst jetzt erfuhr ich auch, aus welchen Abgründen sich dieser freundliche und tatkräftige Mann hatte herausarbeiten müssen. Mit um so größerer Bewunderung verfolgte ich, wie er mit sich selbst und mit anderen umging, wie er handelte, wo andere nur Probleme und unüberwindliche Hindernisse sahen, wie er sanft aber bestimmt sich für die Dinge einsetzte, die er für richtig und notwendig hielt.

Als er feststellte, dass in unseren öffentlichen Bibliotheken adäquate Medien für ausländische Besucher nicht existierten, gründete er mit Freunden einen Verein, der diese Medien – bis heute – produziert und vertreibt. Als er nach dem Fall der Mauer erfuhr, dass der Stadt- und Kreisbibliothek Schwarzenberg das Geld für den Ankauf von dringend benötigten Büchern aus dem Westen fehlte, rief er eine Hilfsaktion ins Leben, und bald fuhren zwei Lastwagen mit 10000 Büchern von Garching nach Schwarzenberg. Als ihm klar wurde, dass für viele Menschen die Zugangsschwellen zu den öffentlichen Bibliotheken zu hoch sind, ruhte er nicht, bis er seinen Gemeinderat und seinen Bürgermeister dafür gewonnen hatte, die Garchinger Bibliothek in eine ‚Erlebnisbibliothek’ umzubauen, mit benutzerfreundlichen Öffnungszeiten, Lesegarten und Kaffeautomaten. Sein verblüffend einfaches Credo: Ein Kaffeering auf einem Buch ist weniger schlimm, als wenn die Leute nicht lesen.

Als ich anlässlich der Verleihung der Preusker-Medaille die Laudatio auf Jürgen Heckel zu halten hatte, sagte ich: „Es gibt Menschen, die überall, wohin ihr umflorter Blick streift, Hindernisse und Beschwernisse erkennen, und andere, die im selben tückischen Terrain vor allem die gangbaren Wege entdecken. Jürgen Heckel gehört zu den anderen.“ Nun, da ich sein neues Buch gelesen habe, wundere ich mich noch mehr darüber, wie heiter und zupackend, wie offen für die Probleme der anderen jemand im Leben stehen kann, der sich dieses Leben so mühsam zurückgewinnen musste.

Jürgen Heckel, der von sich sagt, er habe viele Jahre lang in einer Scheinwelt der Illusionen und des Selbstbetrugs gelebt, hat nicht nur für sich einen gangbaren Weg durchs Leben gefunden, sondern auch vielen anderen einen solchen Weg geöffnet. Er ist ein Ermöglicher, und ein Ermöglicher möchte er auch sein mit seinem neuen Buch. Ich hoffe, dass es viele Leser findet, weil ich sicher bin, dass es nicht nur ein interessantes und gutgeschriebenes Buch ist, sondern im wahrsten Sinn ein Lebensmittel, eine Hilfe und Stütze für alle, die direkt oder indirekt mit dem Alkoholismus und den zahlreichen anderen Süchten in unserer Sucht-Gesellschaft zu tun haben.